Literaturtipps: „Sterntalerexperiment“ und „In Fülle leben – ohne Geld“ (Heidemarie Schwermer)

Vielen Dank an Andreas G. für einen neuen Literaturtipp. (Weitere immer herzlich willkommen , kommt auf die Länge nicht an!)
„Angesichts der immer mehr ausufernden Krise des Weltfinanzsystems ist es offenbar an der Zeit, sich kritisch mit dem Thema „Geld“ auseinanderzusetzen.  Einer der ersten Namen, die mir in dieser Hinsicht einfallen ist:  Heidemarie Schwermer. In ihren beiden Büchern, deren zweites auf dem ersten aufbaut, berichtet sie, wie ihr Leben sie dahin führte, ohne Geld und Besitz, und doch nicht in Armut, zu leben.

Bereits ihre frühesten Erinnerungen, die Flucht aus Ostpreußen 1945, führten ihr eindringlich vor Augen, wie sehr die Welt der Menschen in Unordnung geraten war. Sie wurde dann in Kiel zur Lehrerin ausgebildet und später in Lüneburg zur Psychotherapeutin; in jedem dieser beiden Berufe hat sie gearbeitet und hätte damit dauerhaft ein abgesichertes konventionelles Leben führen können, und doch fand sie nicht zur Ruhe und entschied sich dagegen.

Inspiriert von einem kanadischen Vorbild gründete sie 1994 in Dortmund einen der ersten Tauschringe in Deutschland. Ihr Bericht darüber, wie bei Gründung und Aufbau dieses Projektes Idealvorstellung und Realität kollidierten, ist eindrucksvoll zu lesen und wird in vielen Details wohl auch den Gründern anderer Gemeinschaftsprojekte bekannt vorkommen. Nachdem der „Gib-und-Nimm“-Tauschring dann etabliert war, zog Schwermer sich schon bald wieder daraus zurück, genervt von Vereinsmeierei und Initiativlosigkeit. Sie träumte von einer anderen, einer tiefgreifenderen Veränderung unserer Lebensweise.

1996 löste sie ihre Wohnung auf – ihre beiden Kinder waren inzwischen erwachsen – und verschenkte fast all ihren Besitz; seitdem lebt sie ohne Geld, sie nennt es das „Sterntalerexperiment“. Für einige Zeit hütete sie Wohnungen und Häuser während der Abwesenheit der Bewohner; und irgendwie findet sich in unserer Überflussgesellschaft Kleidung, Unterkunft und Nahrung stets zur rechten Zeit. Bald begann ihr ungewöhnlicher Lebensstil die Aufmerksamkeit der Medien zu wecken, Zeitschriften berichteten über sie, sie wurde zu Vorträgen und wiederholt auch ins Fernsehen eingeladen. Das Interesse der Medien hilft ihr, ihre Botschaft zu verbreiten, gleichzeitig aber missfällt ihr der „Personenkult“.

Bei ihrer Botschaft geht es darum, die Menschen, die durch das Geldsystem einander fremd geworden sind, aus der Anonymität rauszuholen und wieder in Kontakt zueinander zu bringen; es geht also um die Wiederherstellung verlorener Gemeinschaft, so wie es sich auch die Transition-Town-Bewegung vorgenommen hat. Dies ist heute der Inhalt ihrer „Gib-und-Nimm“-Aktionen: Tauschen und Teilen, von Dingen und Hilfeleistungen, und zwar ohne jegliches Aufrechnen des Geldwertes. Dabei soll die Entwicklung weg vom Tauschen und hin zum Teilen führen, denn das Teilen schafft Gemeinsamkeit, während das Tauschen noch mit der Absicht erfolgen kann, die andere Seite übers Ohr zu hauen. Schwermer spricht von einer anbrechenden „Neuen Zeit“, in der das Zusammenleben der Menschen nicht mehr von Konkurrenzkampf und Besitzstreben, sondern von gegenseitigem Unterstützen und der Freude am gemeinsamen Tun und am Lebendig-Sein geprägt sein wird.

Die Folge des Verzichts auf Geld ist, dass Beziehungen und Freundschaften wieder eine zentrale Rolle in Schwermers Leben einnehmen, denn ohne ein Netz guter und zuverlässiger Kontakte könnte sie nicht überleben. Im Gegensatz dazu braucht der Normalbürger nur eine sichere Geldquelle zum Überleben, Sozialkontakte fallen damit in den Hobbybereich. Die beherrschende Rolle, die das Geld in unserer Welt spielt, wird tendenziell also zum Verlust sozialer Kompetenz führen; die sprichwörtliche Anonymität in den Großstädten ist daher nicht nur eine Folge der schieren Überzahl an Menschen. In der Sprache des Verhaltensforschers Konrad Lorenz liest sich diese Beobachtung folgendermaßen: „Unter den Bedingungen des modernen Zivilisationslebens ist kein einziger Faktor am Werke, der auf schlichte Güte und Anständigkeit hin Selektion treibt.“

Schwermers Abkehr vom Geldsystem ist sehr entschlossen; als der Euro eingeführt wurde, weigerte sie sich drei Jahre lang, die neue Währung auch nur anzufassen. Andererseits glaubt sie aber doch, dass die Einführung des Geldes wichtig für die Welt war, da sie die Entwicklung der Individualität ermöglichte. Jeder der sich schon mit Gemeinschaftsbildung auseinandergesetzt hat, weiß, wie mühsam der Umgang mit anderen Menschen sein kann, wenn man auf sie angewiesen ist. Demzufolge befaßt sich ein grosser Teil von Schwermers Büchern mit Beispielen für zwischenmenschliche Konflikte, wie sie in ihrem Sterntalerleben aufgetreten sind.

Eine besondere Quelle für Konflikte scheinen missgelaunte Besucher ihrer Vorträge zu sein; regelmäßig verübeln Zuhörer ihr ihr „Ausscheren“, wollen ihr beweisen, dass ihr Alleingang absurd und eigennützig sei. Es stimmt, dass sie ihr Leben ohne Geld nur führen kann, weil sie Unterstützung erfährt durch andere, die regulär für Geld arbeiten. Der Vorwurf des „Schmarotzers“ geht dennoch fehl, da sie zwar ohne Geld, nicht aber ohne Arbeit lebt. Der Begriff „Gib und Nimm“ drückt die Notwendigkeit einer Gegenseitigkeit aus; manchmal hat sie für eine einzige Mahlzeit schon mehrere Stunden Putzarbeiten geleistet. Entscheidend dabei ist, daß ihre Vision einer Wirtschaftsweise ohne Geld prinzipiell realisierbar ist (und in traditionellen Kulturen auch schon realisiert worden ist).

Das erste Buch, „Sterntalerexperiment“, ist zum großen Teil gut lesbar, da der autobiographische Aufbau einen roten Faden liefert; in der zweiten Hälfte entsteht allerdings bisweilen der Eindruck, eine bestimmte Mindestseitenzahl hätte unbedingt erreicht werden müssen (Schwermer hat übrigens ihre Einnahmen aus dem Verkauf des Buches verschenkt). Das zweite Buch, „In Fülle leben – ohne Geld“ enthält tatsächlich eine große Fülle von Material, teils fesselnd, teils unterhaltsam, teils eher langatmig, aber in einer collage-artigen Durchmischung, aufgrund derer es zum vollständigen Durchlesen großer Entschlossenheit bedarf. Aber wer diese aufbringt und sich von den langatmigen Passagen nicht entmutigen läßt, wird reich belohnt.

Heidemarie Schwermer: „Das Sterntalerexperiment“ (Riemann Verlag, 2001; Goldmann Verlag, 2003)
sowie
Heidemarie Schwermer: „In Fülle sein – ohne Geld“ (2007; frei online verfügbar unter)

(Andreas G.)

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8 Antworten zu Literaturtipps: „Sterntalerexperiment“ und „In Fülle leben – ohne Geld“ (Heidemarie Schwermer)

  1. Felix schreibt:

    „So ist der Wucher hassenswert, weil er aus dem Geld selbst
    den Erwerb zieht und nicht aus dem, wofür das Geld da ist.
    Denn das Geld ist um des Tausches willen erfunden worden,
    durch den Zins vermehrt es sich dagegen durch sich selbst.“

    Aristoteles

  2. Felix schreibt:

    Ich war nun bei der Gruppe der Regionalwährung.
    Der Altersschnitt ist über 70.

  3. Paul Weidmann schreibt:

    Hallo, liebe Leute,

    heute möchte ich auf einen Artikel in der SZ vom 26.Aug. 2011, S. 12 hinweisen.

    Gerhard Scherhorn hat mal wieder einen Aufsatz zu Papier gebracht, der den Basisgruppen Mut macht. Der Kern seiner Aussage ist: Die Aktivisten der Basisgruppen sind in ihrem Engagement für lokale Gemeingüter mit ihrem inneren Widerstand auch gegen die Zerstörung der globalen Gemeingüter, seien sie naturgegeben wie das Klimasystem, die Artenvielfalt, die Bodenfruchtbarkeit, oder sozial gestaltet wie die Bildungschancen, die menschliche Gesundheit, die gesellschaftliche Partizipation. Nur sehen sie keine Möglichkeit für sich selbst, in ihrem lokalen Alltag für deren Erhaltung aktiv zu werden, und hoffen darauf, dass Wissenschaftler, NGO`s und Politiker sich auf globaler Ebene für nachhaltige Entwicklung einsetzen.
    Ich meine: “ Empört euch“, stellt Forderungen an die Funktionseliten, m. E. ist es schon 5 nach 12.

    Paul Weidmann

  4. Felix schreibt:

    In Kiel gibts auch eine Regionalwährung: den „Kannwas“.
    Jeden ersten Montag ist das Gruppentreffen in Kiel.
    kannwas.org

    http://www.regiogeld.de/initiativen.html

    de.wikipedia.org/wiki/Regiogeld

  5. Felix schreibt:

    Moin, interessanter Beitrag.
    Jörg Bergstedt lebt auch ohne Geld. Er nimmt keine Geld-Spenden an, auch nicht für Fahrtkosten. Auf seinen Vortragsreisen trampt er nur.
    Über das Geldsystem zu reden ist interessant. Es basiert aktuell ja auf Zins und Zinseszins, und das ist auch sein Sargnagel! Außerdem kann man durch Zinsen die Menschen gut kontrollieren, weil sie abhängig von Geld und Banken werden.
    Jedes Papiergeld ist in der Menschheitsgeschichte auf null zurückgegangen. Jedes Zins-Geldsystem und das damit verbundene Banksystem crasht, und dann wird der Reichtum wieder von oben nach unten verteilt. Der letzte Crash ist drei Generationen her, daher ist er in Vergessenheit geraten und wird bagatellisiert.
    Ein Wirtschafts- und Währungscrash ist aber diesem Prinzip Zins-Geldsystem immanent.
    Angst haben braucht man davor nicht, vorallem, wenn man selbst Gemüse anbaut. Das macht frei und unabhängig.

    Wie funktioniert das Geldsystem?
    youtube.com/watch?v=lYi0deWPibU&feature=related

    Tauschmittel direkt nach dem Krieg
    youtube.com/watch?v=KCohuAqEA9Q

    Let’s make Money
    youtube.com/watch?v=XGdzUbaF6Y0&feature=related

    engl. Beitrag
    youtube.com/watch?v=XGdzUbaF6Y0&feature=related

    • Paul Weidmann schreibt:

      Hallo Felix,

      deine Aussage zu Geld, Zins und Zinseszins teile ich voll und ganz. Deine Aussage zur Angst, die wir nicht haben müssen, löst bei mir Zweifel aus.
      Die BRD hat ihre Verschuldung im Jahre 2010 um 300 Milliarden € auf nunmehr 2 Billionen € erhöht. Das Land SH wird die Schulden von aktuell 25 Milliarden€ bis zum Jahr 2019 weiter ausbauen.
      Das bedeutet: Erhöhte Zinslasten, Leistungseinschränkungen für die Bürger des Landes und Personalabbau im öffentlichen Dienst.
      Ich finde das empörend!

      Paul Weidmann

  6. Paul Weidmann schreibt:

    Ich finde den Hinweis auf die Bücher gut. Auf der anderen Seite können wir, glaube ich, nicht
    zurück in eine Tauschwirtschaft, da wir in zu großen Gemeinschaften leben.
    Was sich jedoch die Politik und die Kapitalbesitzer mit Zins und Kapitalakkumulation haben einfallen lassen, läuft den Interessen der Menschen in einem Gemeinwesen zuwider.
    Aus diesem Grunde finde ich den Vorschlag sehr gut, über Geld und Finanzen miteinander zu reden.
    Sollte das bei Transition Town zu einem Thema werden, wäre ich gerne dabei.
    Als Literaturempfehlung habe ich in diesem Zusammenhang das Jahrbuch 23 der Reihe Ökonomie und Gesellschaft, inbesondere die Beiträge von Hein/Trugen und Oliver Landmann.
    Paul Weidmann
    Dorfstr. 6
    24113 Molfsee

    • michi schreibt:

      Die größe der Gemeinschaft ist für die Tauschwirtschaft unerheblich! Dank Internet sind die Kommunikationsmöglichkeiten so einfach geworden. Interessensgemeinschaften bilden sich doch auch in dieser so großen Gemeinschaft! Tauschen ist auch nur ein weiteres Interesse. Ich will auch nicht alles HABEN nur weil ein anderer der Gemeinschat es HABEN tut ( :-)) Um ein Loch zu Bohren muss ich eine Bohrmaschine nicht besitzen. Nur ganz kurz man NUTZEN. Eine Tauschbörse ist auch keine neue Erfindung. Es gibt reichlich Beispiele für Organisationsformen einer solchen. Sogar die Massenmedien nehmen sch dieser Idee an. (3Sat 15.09.11 Kulturzeit)

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